Das schwerste Eisenbahnunglück seit dem Krieg in Baden
Schweiz-Expreß bei Rheinweiler entgleist: 25 Tote
Über 100 Verletzte – Waggons stürzen auf ein Haus – Hilfe auch aus der Schweiz und Frankreich – Überhöhte Geschwindigkeit?
Von unseren Redaktionsmitgliedern Horst Tries und Karl-Georg Flicker
R h e i n w e i l e r. Das vierte schwere Zugunglück in der Bundesrepublik in diesem diesem Jahr hat am Mittwoch auf der Rheintalstrecke In der Nähe von Rheinweiler im Kreis Müllheim mindestens 25 Todesopfer und über 100 zum großen Teil Schwerverletzte gefordert. Es wird befürchtet, daß sich die Zahl der Toten noch erhöht. Nach Angaben der Bundesbahn war der Schweiz-Expreß Basel-Kopenhagen (D 370) aus bisher noch nicht geklärten Gründen um 13.10 Uhr vor der Einfahrt in den Bahnhof Rheinweiler, in einer scharfen Rechtskurve entgleist. Die Lokomotive und sieben der neun Waggons stürzten eine fünf Meter hohe Böschung hinunter. Augenzeugen vermuten, daß der Zug zu schnell gefahren ist. In der Kurve besteht eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 75 Kilometern in der Stunde. Der Zug sei schneIler als gewöhnlich gefahren, hieß es. Unter den Todesopfern befindet sich auch der Lokomotivführer.
An der Unglückstätte herrschten, wie ein Polizeisprecher sagte, „katastrophale“ Zustände. Unmittelbar nach Bekanntwerden des Unglücks wurde für die Rettungsdienste der Umgebung Katastrophenalarm gegeben. Mehrere hundert Helfer des Roten Kreuzes des Technischen Hilfswerkes, Mannschaften aus der Schweiz und aus Frankreich, französische und deutsche Soldaten waren im pausenlosen Einsatz damit beschäftigt, die Toten und die Verletzten zu bergen. Hubschrauber der französischen Armee und der Bundeswehr brachten die Verletzten in die Krankenhäuser von Müllheim; Lörrach und Basel sowie, in die Freiburger Universitätskliniken. Zur Bergung der Opfer mußten schweres Hebezeug und Schweißbrenner eingesetzt werden.
Die Einwohner von Rheinweiler waren durch ohrenbetäubenden Lärm aufgeschreckt worden. Zeugen berichteten, der Zug sei allem Anschein nach mit unverminderter Geschwindigkeit in die Kurve gefahren und mit allen Waggons gleichzeitig entgleist. In dem total zerstörten Wohnhaus wurden ein sechsjähriger Junge getötet, seine Mutter und ein Mann schwer verletzt. Der Zug war pünktlich gegen 13 Uhr im Badischen Bahnhof in Basel abgefahren. Er war nach Mitteilung der Bundesbahn zu etwa 75 Prozent besetzt. Eine Hebamme, die in dem Zug gesessen hatte, berichtete, sie habe plötzlich einen „starken Ruck“ gespürt. Dann sei sie allein im Abteil gewesen. Eine Frau neben Ihr sei „aus dem Fenster gerissen worden“. Ortsbewohner berichteten, sie hätten einen „Schlag wie ein Erdbeben“ gespürt. Dann habe man nur noch eine riesige Staubwolke gesehen. Die Bundesbahndirektion Karlsruhe schickte sofort Experten zur Ermittlung der Ursache nach Rheinweiler. Der Präsident der Direktion, Günther, äußerte sich erschüttert über das Ausmaß des Unglücks. Polizei und Kriminalpolizei schlugen ihr Hauptquartier zunächst in Schliengen auf. Die Staatsanwaltschaft Freiburg nahm die Ermittlungen zur strafrechtlichen Seite des Unglücks auf.
Den Hilfskräften, darunter Feuerwehrleute aus Freiburg und den umliegenden Orten, boten sich schreckliche Bilder. Leichter Verletzte und unverletzt gebliebene Reisende suchten nach ihren Angehörigen. Gepäckstücke lagen weit verstreut in den umliegenden Grundstücken. Bundeswehr und Rotes Kreuz brachten Blutkonserven zum Unfallort. In der Universitätsklinik Freiburg meldeten sich spontan Blutspender. Nach .15 Uhr waren die ersten Leichen geborgen und im Spritzenhaus des Ortes aufgebahrt worden. Ministerpräsident Filbinger, der zunächst den Regierungspräsidenten wo Südbaden, Person, gebeten hatte, nach Rheinweiler zu fahren, flog, nachdem das Ausmaß des Unglückes bekanntgeworden war, sofort mit einem Hubschrauber zum Ort der Katastrophe. Auch Innenminister Krause eilte nach Rheinweiler. Im Auftrag des Bundesverkehrsministers, der an seinem Urlaubsort ständig unter richtet wurde, flog Staatssekretär Börner von Bonn nach Südbaden, um sich an Ort und Stelle über das Ausmaß des Zugunglückes und die Ermittlungen zu informieren. Die Unglückstätte bot ein Bild des Grauens. Die Lokomotive hatte sich tief in den Boden gebohrt. Einer der Wagen stürzte in ein Einfamilienhaus und machte es dem Erdboden gleich. Drei weitere Waggons wurden auf ein Gelände zwischen dem Bahndamm und der Landesstraße 137a geschleudert, ein Wagen landete ‚direkt auf der Straße. Börner gab am Unfallort eine Stellungnahme ab, in der er unter anderem sagte: „Im Namen des Bundeskanzlers und der Bundesregierung spreche ich den Opfern unser Mitgefühl aus. Gleichzeitig übermittelt der Bundeskanzler allen Helfern seine Anerkennung für ihre Tätigkeit und für die Organisation.“ Zur Unglücksursache wollte Börner sich nicht äußern; dies sei Sache der Staatsanwaltschaft. Allen Verletzten und Opfern soll jedoch unbürokratisch geholfen werden. Bundespräsident Heinemann ließ den Angehörigen der Opfer sein herzliches Beileid und den Verletzten Genesungswünsche übermitteln. Er hatte von dem Unglück während einer Reise durch Niedersachsen erfahren. Da einige Waggons des verunglückten Zuges sich quergestellt hatten und die Gleise zum Teil aufgerissen waren, mußte der Zugverkehr auf der vielbefahrenen Rheinstrecke sofort gesperrt werden. Omnibusse nahmen einen Pendelverkehr auf. Die Fernzüge wurden über Mülhausen im Elsaß und Straßburg umgeleitet. Dabei kam es zu erheblichen Verspätungen. Von den rund hundert Verletzten des schweren Zugunglücks bei Rheinweiler schweben noch mehrere in Lebensgefahr. Von den Toten wurden bis zum späten Abend erst wenige identifiziert. Die Todesopfer liegen jetzt im Gerichtsmedizinischen Institut in Freiburg aufgebahrt. Das Unglück bei Rheinweiler, das schwerste in Baden seit dem Krieg, ist das vierte größere Eisenbahnunglück in diesem Jahr in der Bundesrepublik. Am 10. Februar war bei Aitrang in Schwaben der TEE Bavaria bei überhöhter Geschwindigkeit aus einer Kurve geflogen. Dabei waren 28 Menschen ums Leben gekommen. Am 18. Mai waren sechs Tote zu beklagen, als ein D-Zug bei Illertissen entgleiste. Zehn Tage später kamen bei Radevormwald 40 Schulkinder und fünf Erwachsene ums Leben, als ein Schienenbus auf einer Nebenstrecke mit einem Güterzug zusammenstieß.
(Quelle: Badische Zeitung, 22.07.1971)
Bilder von damals:
- Zugunglück 1971 in Rheinweiler
- Zugunglück 1971 in Rheinweiler
- Zugunglück 1971 in Rheinweiler
- Zugunglück 1971 in Rheinweiler
- Zugunglück 1971 in Rheinweiler
- Zugunglück 1971 in Rheinweiler
- Zugunglück 1971 in Rheinweiler
- Zugunglück 1971 in Rheinweiler
- Zugunglück 1971 in Rheinweiler
- Zugunglück 1971 in Rheinweiler
- Zugunglück 1971 in Rheinweiler